"Bei 40 Grad auf freiem Feld - Überlebenstraining in der Pop-Oase"


"Äquator dramatisch verschoben!" schreien mir die riesigen Lettern des Revolverblattes entgegen. Schon wieder ist es der heißeste Tag des Jahres, der dritte in Folge, Hitzetote werden gezählt und der Kreislauf hinkt im Grenzbereich. Die Reifen des alten VW-Bullies verlassen den kleinen geteerten Feldweg und rollen knirschend über das strohtrockene Gras des Campingplatzes. Bei dieser Hitze glauben die Menschen alles, und sie verfluchen diesen dramatisch verschobenen Äquator, während sie ihre Eskimozelte aufbauen. Mühsam bohren sie die Heringe in die betonhart ausgedörrte Erde.

Ich suche mir einen Platz unter dem Schatten spendenden Vorzelt des Bullies. Mein Schweiß rinnt in die Sandalen. Mit feuchten Händen trage ich auf die Liste der vergessenen Gegenstände Ventilator ein, umkreise das Wort mit dickem Filz und stelle mir vor, wie man einen solchen Tag ohne das Zutun von Zivilisation überleben soll.

Patti Smith wird hier bald singen, aber der Selbsterhaltungstrieb zieht die vielen Zuschauer zunächst zum See, dem rettenden Ufer entgegen. Durch ein kleines, verdurstendes Waldstück führt ein Pfad direkt zum Strand, der sich hinter einem verbleichenden Baden-verboten-Schild idyllisch in die Landschaft schmiegt. Der Dorf-Nudist mit seiner Frau hat sich am Anfang des Sees ausgebreitet, grüsst freundlich und beobachtet die vielen Jugendlichen. Mit Luftmatratzen und Bällen bewaffnet tragen sie viele kleine Seeschlachten aus, während die Gitarren der ersten Band über das Wasser schweben.

Haldern ist keine Massenveranstaltung. Nicht die kernige Apfelsine, die zarte Kumquat unter den Festivals lädt zum Genuss. Und in Haldern gibt es nicht nur Programm, sondern Philosophie: "Es schließt sich der Kreis, wenn die Richtung stimmt" ist die Weisheit dieses Jahres. Wenn das der deplatzierte Äquator wüsste.

Die Hitze schlägt aufs Gemüt, und während die Wetterstation Karlsruhe den historischen Höchstwert von 40,2° meldet, sitzen die Zuhörer im Schatten der Altbierschänken und kämpfen gegen die Ozonmacht an. Ein tapferes Dutzend schafft es, den mörderischen Hitzestrahlen vor der Bühne zu widerstehen und beruhigt die schwitzenden Musikerseelen, die verzweifelt versuchen, die Schatten am Rande des Feldes zu deuten. Kuhherdengleich ziehen die Haldern-Fans diesem kühlenden Dunkel hinterher.

Das Tagesende führt die Menschen zusammen, und als sich die Abendluft über die roten Köpfe legt, kehren Tanzseeligkeit und Musikverliebtheit in die Herzen zurück. Die Welt liegt im Dunkeln, die Nacht gehört uns. Das Haldern-Gefühl stellt sich ein: der begünstigte Kreis der oberen 5000, vereint in der Pop-Oase.

Der nächste Morgen beginnt in dünnem Heidenebel, der kurz vor Mittag von der allmächtigen Sonne zerschlagen wird. Ein wilder Reigen aus Trinken, Schwimmen und Rauchen beginnt, bis die ersten ersehnten Bands erscheinen. Evan Dando, Schönling und Ex-Lemonhead, der seine Besonnenheit offensichtlich dem Sonnengott geopfert hat, regt sich mitten in einem Song lauthals über die Nebelmaschine auf, die von der linken Seite aus still den Morgennebel zu imitieren sucht. Wütend greift sich Evan das Gerät und schleudert es in den Graben, reisst damit fast einen Security Guard in den Tod und lässt die Maschine am Boden zerstört ihr kurzes Leben aushauchen. Einige Wochen zuvor war er noch so entspannt und erzählte Witze im Kölner Gebäude 9. Jetzt wird er als "Evil Dando" verspottet. Die wunderschöne Nina Persson von den Cardigans besänftigt durch ihre umgarnende Kristallstimme die Gemüter: "I just love this lake here! I will go swimming right after this". Die männlichen Zuhörer kramen in ihren Rucksäcken nach den Badehosen, um vorbereitet zu sein.

Plötzlich ändert sich die Zusammenstellung des Publikums. Patti Smith betritt ihr Reich. Während die Jungs zum See pilgern und die Mädchen unentschlossen umherwanken, treten von Hinten die Alten heran und freuen sich zu Beginn der rettenden Nacht auf ihre Ikone. Der süße Haschischgeruch weicht würzigen Pfeifenschwaden, und der individuelle Kleidungsstil der Neuzeit übergibt das Feld an die frühen 80er Jahre. Die Grand Dame des Rock erhebt die Stimme: "Have you seen death singing in the straw-colored light?" Entschlossenheit glitzert in ihren Augen: Rettet Afrika, helft den hungernden Kindern, stürzt Bush. Patti Smith darf das, sie muss es sogar tun, diese Protesthaltung ist in ihrem schlecht sitzenden Herrenanzug fest eingewoben. Mit großen Augen stehe ich vor dieser alten Frau und bewundere ihren Glauben an die Menschheit: "People have the power". Ich habe das Gefühl, angekommen zu sein in der rettenden Oase, fühle die Erfrischung und muss doch schon wieder los, zum Bulli, unters Vordach, zu den Freunden, in den Schlafsack und auf die Landstraße. Aber Patti nehme ich mit: "Where there were deserts I saw fountains, because the night belongs to us".


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